Beschreibung
In keinem anderen europäischen Staat ist die Debatte um die eigenstaatliche kulturelle Identität so schwierig zu führen wie in Deutschland. Vor dem Hintergrund des Narrativs des Multikulturalismus unternimmt Johannes Heinrichs gegen Parteipolitik, gegen politisches Lagerdenken und gegen die allgemeine Hysterie den Versuch einer nüchternen, dem Denken verpflichteten Untersuchung dessen, was eine deutsche Primär- oder gastgebende Kultur ausmacht. Dabei stellt er als Thesen auf, für die er eine genaue Begründung bietet: · Multikulturelle Gesellschaft im Sinne einer völligen Parität verschiedener Kulturen unter Aufgabe von Sprachgebieten ist weder realistisch möglich noch eine wünschenswerte Form menschlichen Miteinanderlebens. Multikultur ohne die Unterscheidung von gastgebender Kultur und Gastkultur wäre in Kürze eine Unkultur. · Ein vertieftes, aufgeklärtes Bewusstsein kultureller Identität hat mit Nationalismus nichts gemeinsam. Im Gegenteil, es ist Voraussetzung für Multikultur. Eine gastgebende Kultur, derer sich die Gastgeber bewusst sind, ist nach Heinrichs sogar Voraussetzung für die Integration von Immigranten einschließlich ihrer je eigenen (Gast-)Kulturen. Das Bewusstsein um die Rolle der gastgebenden Kultur bedeutet dabei keineswegs ein nationalistisches Überlegenheitsgefühl, sondern schlicht den unerlässlichen Gemeinschaftsgeist, der sich in Sitten und Gebräuchen äußert, zuerst und zuvörderst in der Verwendung einer gemeinsamen Sprache. Von Einwanderern ist daher auf Dauer eine kulturelle Integration zu verlangen - was jedoch nicht bedeutet, dass sie ihre mitgebrachten Kulturen zu verleugnen bräuchten. Diese genießen als Sekundärkulturen Gastrecht in der gastgebenden Primärkultur, auch wenn die Einzelnen als solche nicht bloß Gäste bleiben. Solche sich aus der Vernunft ergebenden Grundregeln werden sowohl von linken Multikulti-Ideologen wie von rechten Nationalisten missachtet - aber zugleich auch von Mitte-Politikern noch immer ignoriert. Das vorliegende Buch stellt die zweite, um zwei Essays und ein Resümee erweiterte Neuauflage der Erstausgabe von 1994 dar, die so klar- und weitsichtig verfasst wurde, dass sie in beinahe schon unheimlicher Weise aktuell ist, nicht zuletzt durch die Migrationskrise. Johannes Heinrichs' Analyse von kultureller Identität, in der er den Begriff einer gastgebenden Primärkultur Jahre vor der Leitkulturdebatte einführte, leistet einen grundlegenden und wichtigen Beitrag zu einer Versachlichung der Diskussion um Einwanderung und 'Leitkultur'. Als Ergänzungen sind folgerichtig beigefügt · der Aufsatz Kulturelle Solidarität - der unerkannte Kern des Migrationsproblems, in welchem Heinrichs Pflichten zur sowie Bedingungen und Voraussetzungen für kulturelle Gastfreundschaft analysiert, · ein kritischer offener Brief an Bassam Tibi anlässlich der aktualisierten Neuauflage von Tibis Buch Europa ohne Identität (2016), mit dessen Erstausgabe dieser im Jahr 1998 den Begriff der Leitkultur geprägt hat, · ein Resümee 'Ergebnisse und Ergänzungen'.
Autorenportrait
Prof. Dr. Johannes Heinrichs lehrte seit 1975 Sozialphilosophie an der Jesuitenhochschule in Frankfurt am Main, verzichtete aber früh auf diese Professur und war zuletzt Gastprofessor für Sozialökologie an der Humboldt-Universität zu Berlin (in der Nachfolge von Rudolf Bahro). Heinrichs gilt als Ausnahmeerscheinung und Neuerer in philosophischer Systematik. Seine fast jedes Gebiet berührende Reflexions-Systemtheorie beruht auf dem Grundgedanken der sinnstiftenden Grundprozesse Handlung, Sprache, Kunst und Mystik, die sich analog als Ebenen des Sozialsystems in Wirtschaft, Politik, Kultur und Grundwertesystem ausformen. 1983 verließ er die Grünen - ihrer undifferenzierten Multikulti-Ideologie wegen. Er hat einen untergründig viel diskutierten, praktikablen Entwurf für eine friedliche Revolution der Demokratie (2003/2014) vorgelegt, flankiert von einem in Literaturkreisen bekannten Kommentar zu Hölderlins Hyperion, der 2007 unter dem Titel Revolution aus Geist und Liebe veröffentlicht wurde. Heinrichs wurde mit Auszeichnungen bedacht, bis er seine Ordensprofessur aus Gewissensgründen verließ und die Auswirkungen des (verfassungsrechtlich höchst fragwürdigen) Konkordates zwischen Kirche und Staat auf die universitäre Philosophie zu spüren bekam. Er beschritt fortan - neben einer Lehrstuhlvertretung für Kantforschung in Bonn (1981/82) und der Gastprofessur in Berlin (1998-2002) - seinen Weg als freier Publizist. Von seiner bis heute ungebrochenen »ungeheuren Denk- und Arbeitskraft« (so Xavier Tilliette im Spiegel) zeugen mehr als 30 Bücher und zahlreiche Fachartikel. Homepage: johannesheinrichs.de.