Beschreibung
Die wissenschaftshistorischen Wurzeln des ethologischen Verhaltenskonzepts können ebenso wie die des sozialwissenschaftlichen Handlungsbegriffs auf eine über 90jährige Geschichte zurückschauen. Und so gesehen ist es schon erstaunlich und bedauerlich, dass eine Disziplin wie die Gesprächslinguistik, die selbst inzwischen eine gut 30jährige Entwicklung hinter sich hat, bis jetzt konsequent und kompromisslos in der ganzen Zeit einen Wissenschaftsbereich ignoriert hat, der mit höchst relevanten theoretischen Konzepten wie empirischen Befunden aufwarten kann, die für die Gesprächsforschung von aller größter Bedeutung sind! Ziel des vorliegenden Buches ist es daher, die Gesprächslinguistik für eben diesen Bereich der Verhaltensforschung - also für die Ethologie - zu öffnen und in Bezug auf das Konzepts einer Gesprächsethologie Bereiche und Sichtweisen zu erschließen, die das Spektrum der möglichen Erkenntnisse über menschliche Aktivitäten in Gesprächen erweitern und vertiefen. Die Gesprächsethologie versteht sich so gesehen nicht als eine Alternative zur bisherigen pragmatisch orientierten und von einem Handlungsbegriff ausgehenden Gesprächsforschung. Vielmehr geht es ihr darum, durch eine neue theoretische Konzeption andere und neue Dimensionen in Gesprächen zu erschließen. In dieser Sichtweise stellen die Konzepte von Handeln und Verhalten keinen Gegensatz dar, sondern bilden eine Dualität, die unterschiedliche Aspekte desselben kommunikativen Geschehens integrativ verbindet. In dem Zusammenhang lässt sich ein zentrales Prinzip hypothetisch einführen, das es erlaubt, Kommunikation als Verhalten zu begreifen und damit als grundlegendes Erklärungsprinzip für verschiedene in Gesprächen auftretende interaktive Phänomene verstanden werden kann. Dieses Prinzip, das hier als das Q/E-Prinzip bezeichnet wird, besagt, dass sich Gesprächspartner grundsätzlich nach einer bestimmten allgemeinen Maxime verhalten, die aus der Tatsache abzuleiten ist, dass Kommunikation als eine Darwin-Maschine verstanden werden kann, in der es generell um eine Qualifikation des Einzelnen vor dem Hintergrund möglicher Risiken des Scheiterns geht. Das Q/E-Prinzip lautet: Wer sich nicht (im Gespräch) qualifiziert, wird (daraus) eliminiert. Dieses Risiko, sich im Sinne des Q/E-Prinzips in Gesprächen zu disqualifizieren, ist überall und stets gegeben. Und dennoch: Ohne ein solches ständiges Wagnis, auch scheitern zu können, gäbe es letztlich keine kommunikative und auch keine soziale Gemeinschaft. Dies zu zeigen und die Mittel und Wege der Qualifikation im Gespräch auf der theoretischen Grundlage einer allgemeinen wie speziellen Humanethologie zu bestimmen, ist Aufgabe einer Gesprächsanalyse, die in diesem Buch unter dem Namen Gesprächsethologie in ihren theoretischen Grundzügen vorgestellt werden soll.