Beschreibung
Warum wird Identitätspolitik heute vielfach nur noch als sprachfixierte Zensurinstanz wahrgenommen? Als Befürworter ihrer Anliegen übt Lars Distelhorst eine solidarische Kritik - und schlägt zugleich eine Wiederaneignung ihrer Methoden vor. Wesentliche theoretische Grundlage der Identitätspolitik war der Poststrukturalismus mit seiner Infragestellung sozialer Ordnungskategorien wie race und Gender und der These, die soziale Wirklichkeit werde mittels gesellschaftlicher Diskurse konstruiert, die, von versteckten Machtmechanismen durchzogen, Ausschlüsse und Diskriminierung erzeugten. An der Praxis identitätspolitischer Methoden und Anliegen lässt sich einiges kritisieren: ein unterkomplexes Verständnis der Performativität von Sprache, die Missachtung wissenschaftlicher Standards, die Ausklammerung ökonomischer Zusammenhänge und die Reproduktion zentraler neoliberaler Versatzstücke - spätestens seit dem 7. Oktober 2023 muss hier auch der in der Bewegung verbreitete Antisemitismus genannt werden. Doch steckt im Thema Identität auch das Potenzial zur Entstehung einer politischen Bewegung, die unsere Subjektivität und den Kontext ihrer Entstehung im Netzwerk ökonomischer Strukturen, marktkonformer Ideale und damit verbundener Normierungen kritisch verortet und von dort aus die Forderung nach einer freien Gesellschaft erhebt. Das politische Ziel der Stunde sollte deshalb darin bestehen, das Konzept der Identität wieder in eine emanzipative Politik zu überführen.
Autorenportrait
Lars Distelhorst, geboren 1972 in Georgsmarienhütte, hat an der Universität Bremen Politikwissenschaft studiert und promovierte an der FU Berlin über Geschlechterpolitik. Er ist Professor für Sozialwissenschaft an der Fachhochschule des Mittelstands Berlin. Zuletzt erschien 'Kulturelle Aneignung' (Edition Nautilus 2021).