Beschreibung
Kuba befindet sich seit Beginn der neunziger Jahre in einem Prozess des Wandels. Derzeit erholt sich das durch eine Zentralverwaltungswirtschaft regierte Land nur langsam von der periodo especial, der Wirtschaftskrise in den neunziger Jahren, und bemüht sich neben der Verteidigung der sozialistischen Utopie, den in den letzten Jahren erreichten wirtschaftlichen Aufschwung aufrechtzuerhalten. Die kubanische Theaterszene zeichnet sich durch eine enorme Vielfalt aus. Sie besteht aus einem breiten Spektrum dramatischer Stimmen aus verschiedenen Generationen, die die Mythen und Rituale der Gesellschaft ebenso aufgreifen wie aktuelle existenzielle Konflikte und die individuelle Auseinandersetzung mit ihnen. Gleichzeitig führt das Theater in Kuba permanent den Kampf ums Überleben. Trotz staatlicher Subventionen ist es aufgrund materieller Knappheit weiterhin auf den Idealismus, den Schaffensdrang, die Solidarität und Improvisationsgabe der Künstler angewiesen. Weitere gravierende Probleme sind der Mangel an gut ausgebildeten, jungen Regisseuren, der Rückzug professioneller Bühnenkünstler aus der Theaterwelt, die sich aus finanziellen Gründen profitableren Aktivitäten wie Film- und Fernsehproduktionen zuwenden müssen, sowie die stetige Auswanderung von Schauspielern, Dramatikern und Theaterleitern. Die Suche nach Cubanidad, nach der Essenz des Kubanischen, ist seit je ein hochexplosives Thema in Kuba. Im 19. Jahrhundert erreichte der Identitätsdiskurs auch die Bühne. Mit der Bekräftigung des kreolischen Einflusses auf die Nation und in subversiver Pose gegenüber dem kanonisierten Eurozentrismus im öffentlichen Leben Kubas entstand eine Kultur des Widerstands gegen die spanische Vorherrschaft. Noch heute ist Theater in Kuba immer auch ein mit frecher Bissigkeit gewürztes, kluges Spiel mit Parabeln und Allegorien, die die Zensur geschickt umschiffen. Auch dieses Heft zeugt davon. Vorliegendes Insert zeigt, dass die Kultur des Widerstands und das Streben nach Cubanidad auf den Bühnen der Insel bis heute ihre Spuren hinterlassen. Es entstand in enger Kooperation mit dem kubanischen Theaterverlag Tablas-Alarcos. Selbstverständlich können auf diesen wenigen Seiten weder alle Theaterbereiche noch alle Künstlerstimmen des Landes erfasst werden. Dennoch liegt die Besonderheit dieser Publikation darin, dass sie erstmals eine umfassende Bestandsaufnahme des zeitgenössischen kubanischen Theaters anstrebt, die - mit drei Ausnahmen - ausschließlich einheimische Autoren und Künstler zu Wort kommen lässt. Der Leser wird in die institutionelle Struktur der kubanischen Theaterlandschaft eingeführt und erhält einen Überblick über die bewegte Geschichte des kubanischen Theaters. Er erfährt, wie die im 19. Jahrhundert entstandene starke Theatertradition, die Anfang des 20. Jahrhunderts von kommerziellen Strukturen verdrängt wurde, in den Vierzigern ein Revival erlebt, mit der Revolution 1959 ihren Durchbruch erlangt und die Herausforderungen der periodo especial in den Neunzigern bewältigt. Auseinandersetzungen mit der Aufführungspraxis der heutigen progressiven Vorreitergruppen und der vielversprechenden zeitgenössischen Dramatik bilden weitere Schwerpunkte. Abgerundet wird das Insert durch Gespräche mit Regisseuren und Dramatikern sowie Porträts anderer Theatermacher. 2008 besuchte ich die Deutsche Theaterwoche in Havanna, die seit 2006 in Zusammenarbeit mit dem Kubanischen Nationalrat für Bühnenkunst, der Stiftung Ludwig und dem Verlag Tablas-Alarcos vom Verbindungsbüro des Goethe-Instituts organisiert wird. Die hier dargelegten Erkundungen setzen einen Dialog fort, der damals mit dem Festival begann, und bieten eine solide Grundlage für die Vertiefung der hier aufgeworfenen Fragen durch zukünftige Analysen. Ich danke Yohayna Hernández González, die auf kubanischer Seite als Redakteurin offen und flexibel die Arbeit am vorliegenden Heft betreut hat, sowie dem Verlagsleiter von Tablas-Alarcos Omar Valiño und der Redakteurin Karina Pino Galla