Beschreibung
Im Dialog mit James Ensor Was Gerresheim an Ensor fasziniert, ist zunächst einmal eine tiefe Beziehung zum Phantastischen, die zweifellos ein Erbe der flämischen Tradition von Hieronymus Bosch bis Pieter Brueghel ist. Beide lassen ihrer Vorstellungskraft freien Lauf. Neben dem konkret Sichtbaren steht bei ihnen das bloß Vorgestellte, Erinnerte, Geträumte. ln der barocken Realität, in der sie leben, werden der eine wie der andere durch bizarre Gegenstände erregt: Muscheln, Marionetten, Vasen und Schüsseln, Teppich- und Tapetenmuster, die den Keim der Phantasie bereits in sich tragen. Wellenförmige Linien entstehen, die durch ihre Assoziationen neue Motive schaffen und in ihrem imaginären Charakter dem Symbolisten Ensor wie dem Surrealisten Gerresheim nahestehen. Die Forderung Caspar David Friederichs hat sich ebenso Ensor wie Gerresheim zu eigen gemacht: Der Maler soll nicht nur malen, was er vor sich sieht, sondern auch das, was er in sich sieht. Dem entsprechend zeichnen beide das visuell Geschaute, angereichert mit den Gefühlen und Sehnsüchten, mit der Qual und der Abscheu, die die Gegenstände in ihnen erweckt haben. Am tiefsten verbindet Gerresheim mit Ensor jedoch die Vision des alles beherrschenden Todes, die jeden diesseitigen Optimismus ad absurdum führt. Aber nicht nur die Grundstimmung ihrer Bildwelt weist verwandte Züge auf. Gerresheim greift auch verschiedene Stilmittel auf, die er bei Ensor vorfindet. Das gilt zunächst für die Bedeutung des Lichtes, das mit seinem Spiel von Reflexen und Schimmern die Linien vibrieren lässt; es deformiert und zerfrisst die korrekte Form. Die irrisierenden Reflexe von Porzellan, die Transparenz von Flaschen und Gläsern, die Palette von 8lumen und Speisen sind Elemente, mit denen sowohl Ensor wie Gerresheim der Stofflichkeit der Materie nachgehen. Die Subtilitäten des Lichtes lassen gleichzeitig auch einen extremen Reichtum an Schattierungen zu, die minutiöse Details bei den Möbeln und Gerätschaften der lnterieurs zutage fördern. So greift Gerresheim ganz selbstverständlich gewisse Motive und deren Stilmittel von Ensor auf. Dessen Anschauung kann ihm gerade so gut wie der eigene Stil zur unmittelbaren Erfahrung werden. Er schlüpft in die Gewänder Ensors und spricht doch mit eigener Stimme. Denn er durchschaut dessen Vorlagen, entrümpelt sie vom Zeitgeschmack und allen Accessoires, um die eigene Komplexität in den Bruchstücken zu erfassen. Gerresheim tritt in der Rolle Ensors auf, um sein Ureigenstes durch die Rekonstruktion verborgener Muster zu manifestieren. Er erfüllt den Vorgänger mit Leben, indem er dessen Herkunft rekapituliert. So entsteht ein Dialog mit ihm und seiner Geschichte. Von daher versteht sich der 1969 von Gerresheim erfolgte Ausspruch: Die moderne Kunst beginnt in der Vlaanderenstraat. - Ensors Adresse. Vom obersten Eckfenster dieser Adresse besitzt der Künstler im Übrigen einen alten Fensterrahmen, den er wie eine ehrwürdige Reliquie hütet, da von diesem Fenster der Wegbereiter der Moderne sein Leben lang die Welt betrachtet hat. © Werner Roemer