Beschreibung
Ernst Derendinger (1883-1972) suchte nach Abschluss der Ausbildung zum Graphiker sein berufliches Glück in Deutschland und Finnland. Seit 1910 in Moskau tätig, hielten ihn die Zeitumstände (Erster Weltkrieg, Revolution, Bürgerkrieg und das schwierige Berufsumfeld in der Schweiz der Nachkriegszeit) davon ab, wieder in die Heimat zurückzukehren, bis er 1938 wie alle Ausländer die Sowjetunion doch noch verlassen musste. Seine ausführlichen Lebenserinnerungen, die er bald darauf niederschrieb, sind ein Zeitzeugnis von besonderem Wert. Einerseits zeichnen sie die Veränderungen des täglichen Lebens in Russland, vor allem in Moskau, von der ausgehenden Zarenzeit über die Not- und Hungerjahre von 1917 bis 1921, die 'goldenen Zwanziger' während der Zeit der Neuen Ökonomischen Politik bis hin zu den Aufbau-, Mangel- und Terrorjahren der frühen Stalinära detailliert nach. Andererseits porträtieren sie mit dem fotografischen Blick des Zeichners das Leben der 'kleinen Leute', die selten Selbstzeugnisse hinterlassen haben. Als Graphiker, der teils selbständig, teils im Lohnverhältnis arbeitete, kennt Derendinger sich auch in der Druckbranche bestens aus und vermag die Veränderungen innerhalb dieses Gewerbezweiges während der sowjetischen Zeit, die Arbeitsbedingungen und das Arbeitsklima aus eigener Anschauung eingehend zu beleuchten. Aber auch hochrangigen Vertretern der Sowjetmacht kam er zeitweise nahe: 1921 nahm er an Agitationskampagnen mit Propagandazügen teil und begleitete sogar den Staatspräsidenten Michail Kalinin auf einer Wolgafahrt. Über Ferienreisen und Kuraufenthalte erschloss er sich Teile des europäischen Russland sowie den Kaukasus und beschreibt eingehend auch seine dortigen Beobachtungen und Erlebnisse. Der Widerspruch zwischen den hehren Schlagworten sowjetischer Propaganda und dem Leben der hohen Funktionäre, wie er es kennen lernte, hat ihn - den Sozialisten - zu einem unerbittlichen Kritiker des Sowjetkommunismus, insbesondere des Stalinismus gemacht. Derendingers Rückblick auf seine Russlandjahre besticht durch Detailreichtum, erzählerische Kraft, weitgehende kulturelle Unvoreingenommenheit, die Fähigkeit, politischen Schein und reales Sein strikt zu trennen sowie durch seine Offenheit auch solchen Alltagsphänomenen gegenüber, die wie die Sexualität oder das Schlachten von Hunden und Katzen während der Hungerjahre in Selbstzeugnissen normalerweise tabuisiert bleiben.